Der ästhetische Prozess

Die Zentrifuge (www.zentrifuge-nuernberg.de) ist eine Initiative zur Vernetzung Kulturinteressierter und Kulturschaffender, die sich kurz nach der Schließung des Nürnberger AEG-Werks gründete. Im Jahr 2008 begann sie, Kunstausstellungen in einer verlassenen Industriehalle auf dem stillgelegten Gelände zu realisieren. Die Zentrifuge war damit einer der ersten kulturellen Nutzer auf dem industriegeschichtlich bedeutsamen Gelände. Im Laufe der Jahre hat sie mehrere hundert Künstler präsentiert und in Projekten zusammengebracht sowie viele kunst- und kulturübergreifende Projekte (mit) ins Leben gerufen. Mangels personeller und finanzieller Kapazitäten musste die Zentrifuge den Betrieb der Halle auf AEG im Juli 2014 einstellen. Aber auch unabhängig von diesem Ort setzt sie ihre Projekte fort: Sie ist Herausgeber des Magazins PILOT, Mitveranstalter des CreativeMonday, Initiator des Projekts »Forschende Kunst« sowie Kooperationspartner bei Engineering 2050 und beim Nürnberger Businesskongress. Der gemeinnützige Verein wirkt somit auch über die Zeit auf AEG hinaus als Künstler- und Vernetzungsplattform sowie als Ideeninkubator, Schnittstellen-Moderator und Impulsgeber.

Der ästhetische Prozess, wie er in der Zentrifuge schon lange wirkt und nun zunehmend herausgearbeitet wird, ist ein Verfahren, um einen konstruktiven und nachhaltigen Austausch zwischen Menschen als denkenden, fühlenden und handelnden Wesen herzustellen. »Ästhetik« wird dabei im eigentlichen Sinne des Wortes als »Wahrnehmung« verstanden.

Zentrale Elemente des ästhetischen Prozesses sind Ziellosigkeit und Ästhetik. Ziellosigkeit bedeutet, dass zu Beginn und über einen längeren Zeitraum keine Ziele formuliert werden, da diese durch konkrete Vorgaben den Denk- und Wahrnehmungsraum nur einschränken statt bereichern würden. Die Ästhetik wird im Sinne der Wahrnehmung verstanden, also eine gegenwärtige Achtsamkeit einzuüben, mit möglichst wachen Sinnen durch diesen Prozess zu gehen und auf die Qualitäten der Wahrnehmungen zu achten. Fühlen und Denken kommen dabei auf elementare Weise zusammen. Der ästhetische Prozess, wie er in der Zentrifuge gepflegt wird, setzt somit vorrangig auf Erkenntnisorientierung … erst zum Ende hin kommt dann die Zielorienterung ins Spiel, da ja aus den Workshops heraus auch Wirkungen entfaltet werden sollen … aber nicht müssen. Der ästhetische Prozess führt somit über mehrere Phasen von einem – bildlich gesprochen – gasförmigen zu einem zunehmend verdichteten Zustand. Die »Ziellosigkeit« ermöglicht es, scheinbar Selbstverständliches noch einmal zu überdenken und einen neuen Blick auf Gewohntes zu werfen. Ziele lassen sich nämlich auch anders, vielleicht sogar neu sehen, wenn man den Raum in Betracht zieht, in dem sich ein Ziel befindet und sich selbst in ein anderes Verhältnis zum Ziel setzt. Das Ziel verschwimmt und wird neu konfiguriert. Vielleicht löst es sich auch ganz auf und setzt sich an anderer Stelle wieder aus gleichen, ähnlichen oder gänzlich anderen Bestandteilen zusammen.

Die Beteiligten kommen beim ästhetischen Prozess in der Begegnung zu sich, werden für geistige und physische Phänomene, die ihnen gegenwärtig und unmittelbar begegnen, sensibilisiert, erkunden ihre eigenen Potenziale und die ihrer Mitmenschen und lernen Möglichkeiten kennen, sich abseits von Konventionen neu auf die Welt einzulassen und sich in ihr zu bewegen. Die Zentrifuge erweist sich damit als Trainingscenter und Labor für einen einfühlsamen, achtsamen Zugang zur Welt – und dies ohne ideologischen Überbau, ganz aus uns selbst heraus. Wir lernen uns dabei als Menschen neu kennen und verstehen. Der ästhetische Prozess wirkt als Initiation für Menschen, die ahnen, dass ihre Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft sind und die ihre Spielräume im Denken, Fühlen und Handeln erweitern möchten.

Wie gelingt nun ein solcher »ästhetischer Prozess«? Wir haben mehrere Aspekte identifiziert, die wir für grundlegend erachten: Interdisziplinarität und Begegnung, und in der Begegnung Offenheit, Achtsamkeit, Toleranz, Geduld, Vertrauen, Mut. Eine ganz wesentliche Rolle spielt die Kunst, da sie exemplarisch für die Möglichkeit steht, die Welt und ihre Gegebenheiten aus größtmöglicher Freiheit heraus wahrzunehmen. Aus dieser besonderen Wahrnehmung erwächst ein existenziell höchst anspruchsvolles Selbstverständnis, das die Beteiligten geradezu dazu nötigt, sich als Künstler zu verstehen und etwas »Eigenes« zu schaffen, was gemeinhin einem Genius oder wenigstens einer Inspiration entspringt. Solchen produktiv wirksamen Idealvorstellungen können wir uns als begrenzte Wesen nur annähern, doch legen wir bei »Forschende Kunst« Wert darauf, dass der ästhetische Prozess von Künstlern begleitet wird, die diesen unbedingten Anspruch an Freiheit und Ausdruck wach halten und in mancherlei Hinsicht vielleicht sogar verkörpern.

Unsere Erfahrungen geben Hinweise für gelingende Entwicklungsprozesse in Teams, Unternehmen oder Organisationen. Diese Prozesse sind (re-)produzierbar, aber aufgrund der Freiheit, die wir von vornherein fordern (müssen), sind die Ergebnisse des ästhetischen Prozesses im Vorfeld nicht absehbar und damit unkalkulierbar. Der ästhetische Prozess, wie wir ihn verstehen, ist nur möglich, wenn er ohne vorgegebene Ziele auf den Weg gebracht wird. Vertrauen in die konstruktive Kraf der Menschen, die sich auf ihn einlassen, setzen wir unbedingt voraus. Wer dieses Vertrauen nicht zu schenken bereit ist, wird den ästhetischen Prozess nicht erfahren und an seinen Ergebnissen nicht teilhaben können.

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Das komplette Kapitel als eBook zum Download: Michael Schels – Der ästhetische Prozess (PDF)

Creative Commons LizenzvertragDer ästhetische Prozess von Michael Schels ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.

Design: Sonja Leppin
Illustrationen: Susanne Kasper